Eigentlich wollte ich schon länger mal was zum Wert von Bildung schreiben. Warum? Na ja, weil sie in aller Munde ist, aber so sehr viele Leute gar nicht wissen, was Bildung so recht ist.
Beispiel: das Abitur.
Mein Sohn, der ja nun selbiges gerade im Moment erwirbt, kam nach seiner mündlichen Prüfung zum vierten Fach und lästerte darüber, dass das ja „alles nix“ sei. Früher habe er gedacht, Abitur zu haben sei eine Leistung ... aber nun ... Dann muss ich ihn gelegentlich bremsen und bitten, etwas Distanz einzunehmen und zu sehen, dass das Reifezeugnis doch eine gewisse Aussagekraft hat. Es gibt immer noch genügend Menschen, die daran scheitern. Kurz vorher noch, hatte alles etwas anders geklungen. Er hatte sich mit einer sehr guten Schülerin aus einfachen Migrantenverhältnissen darüber unterhalten, wer doch nun tatsächlich alles beim Abitur noch dabei sei, obwohl offensichtlich dumm oder faul oder beides. Da fielen aus dem Mund dieser Schülerin diverse mir und einigen meiner Leser sehr bekannte Namen. Da wurde zwar vermutet, dass es einfacher sein würde, als möglicherweise erwartet, aber es klang auch an, dass man erwartete, einige Mitschüler noch durchfallen zu sehen. An jenem Dienstag also klang es, als sei alles Pillepup. Schon am folgenden Tag wurde dann das Bild wieder etwas zurechtgerückt. Ein Schüler, von dem mir immer berichtet werde, er sitze „im Unterricht wie ein Stein“, ohne auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, worum sich das Gespräch dreht. Und er könne vor allem auch nicht wiedergeben, was vor wenigen Monaten behandelt wurde, da in seinem Hirn ein großes Vakuum sei ... Dieser Schüler nun, hat in der Prüfung zum vierten Fach genau einen Punkt erreicht. Also schafft sie doch offenbar nicht jeder – die Reifeprüfung.
Ich möchte das auch alles gar nicht so übermäßig hoch hängen. Das Abitur zu schaffen, sollte einen erleichtert zufriedenen Seufzer wert sein, aber eben auch kein Grund, die Nase allzu hoch zu tragen. Wenn ich allerdings manche Menschen darüber urteilen höre, dann denke ich mir häufig, dass sie gar keine Ahnung haben, wovon sie da reden. Z.B. wenn mir ein Schüler im Unterricht erzählt, das, was ich ihm da gerade in der neunten Klasse Realschule abverlange, mache ja seine Schwester auch gerade und die mache schließlich Abitur ... Halt, denke ich, welche Schwester meint er (denn er hat derer fünf, aber es kann sich nur um eine handeln, da alle anderen vom Alter her nicht in Frage kommen), während die meisten Mitschüler denken „Wow, dessen Schwester macht Abitur, wusste gar nicht, dass die so schlau ist.“. Auf meine Nachfrage hin bestätigt sich mein Verdacht: Er spricht von der Schwester, die gerade eben erst die zehnte Klasse der Realschule verlassen hat und nun an einer Gesamtschule in der 11 die Wiederholung des Stoffes aus der Sekundarstufe I durchläuft. Es ist also nicht so, dass ich Unmögliches vom Schüler verlangt habe, weil ich ihn mit Oberstufenstoff gequält hätte und auch ist über den Erfolg seiner Schwester in der Gymnasialen Oberstufe noch kein Wörtchen gesprochen. Aber man geht eben mit dem Wörtchen „Abitur“ allzu gerne schon vorzeitig hausieren.
Ein Freund meines Sohnes z.B. macht nun gerade seine Fachhochschulreife. Die Fachrichtung tut hier nichts zur Sache, aber wir mögen den Jungen gern, haben ihn aber schon immer für recht „einfach“ gehalten. Offenkundig ist sein Englisch-Niveau das, was ein mittelmäßiger Gymnasiast circa am Ende der 7. Klasse hat (also kaum höher als das Europäische Referenzniveau A1), wie mein Sohn mehrfach feststellen konnte und ich zuletzt auch, als ich mal einen Blick auf seine Englischhefte werfen durfte. Die Eltern aber, beide nach der 9. Klasse Hauptschule ins Leben entlassen, berichten stolz, er habe echt viel „gelernt“ (gemeint ist „gearbeitet“ oder was so aussieht wie arbeiten – am Tisch sitzen und den Kopf in Bücher und Hefte stecken, eben). Auf der Sportplatz-Tribüne dann der Spruch „Wenn die jetzt verlieren und nichts mehr trinken, um so besser, dann ist er morgen für die Klausur fitter und dann noch Donnerstag die Klausur und dann war’s das mit dem Abitur.“ „Hallo,“ denke ich „FACH-Abitur, nicht ABITUR.“ Mal sehen, ob er’s schafft?!
Oder mein Vater angesichts der moderaten Noten meines Sohnes: „Leuten mit so Zeugnissen, haben wir schon lange keine Jobs mehr angeboten.“, davon ausgehend, dass man so moderate Noten ganz offensichtlich hinterher geworfen bekommt. Das mag in einigen wenigen Fächern auch der Fall sein, aber Schülern, die auch bei regelmäßigem Nachfragen, kaum einen gescheiten Satz zu den behandelten Zusammenhängen sagen können, geben wir in der Regel weniger als 5 Punkte – nicht immer mit aller Konsequenz, aber doch so, dass die Selektion am Ende insgesamt funktioniert und genügend Fehlkurse zusammen kommen. Klar darf auch einer über Bildung urteilen, der „nur“ die Realschule absolviert hat, aber ich wäre da eben doch auch vorsichtig. Beim Abitur geht es eben auch um Studierfähigkeit und kritisches Denken (auch ein Begriff, der hier vielleicht erklärt werden sollte – gemeint ist jedenfalls nicht so was wie eine ich-stehe-allem-fürchterlich-skeptisch-und-ablehnend-gegenüber-Kritik) und nicht nur darum, Fleiß und Pflichterfüllung zu zeigen, wie es so mancher Arbeitgeber von Mitarbeitern auf einem bestimmten Niveau erwartet.
Durch Bildung kann man sich entfremden. Ich erlebe es immer wieder. Wenn ich z.B. auf die Frage hin, wie es denn in meinem Schwimmverein so ist, sage, es handele sich im Gegensatz zu den Konkurrenz-Vereinen um einen Proleten-Verein, wo unsere kleine Akademiker-Clique eigentlich gar nicht wirklich integriert ist, wir da nur aus alter Gewohnheit hingehen und uns auch deshalb wohlfühlen, weil dort alle vor allem Spaß am Schwimmen und Wasser – auch bei nicht ganz so hohen Temperaturen – haben und man sich dabei so schön in der Natur aufhalten kann, da dort noch bis recht spät abends die Sonne scheint, dass die Tatsache, dass wir dort niemanden näher kennen, aber auch Vorteile habe, da wir beim A... vermutlich vor lauter Bekannten aus dem Quatschen nicht mehr rauskämen, dann springt mir mein Nachbar schon an die Kehle, ob der Wortwahl „Proleten-Verein“ und unterstellt mir Arroganz und Gott-weiß-sonst-was. Wer aber auch nur einen Sommernachmittag dort verbracht hat, die Gespräche der Mütter und ihre Rufe und Anweisungen zu den Kindern hin verfolgt hat, der weiß 100%ig, was ich meine: Unsere Clique ist TOTAL ANDERS. Dass sie besser ist, habe ich nicht gesagt. In jedem Fall aber sind zur Unterscheidung die Schubladen „Proleten“ und „Akademiker“ aussagekräftig und absolut passend.
Man kann sich aber auch durch den oben angesprochenen kritischen Geist entfremden. Man liest mit Begeisterung z.B. einen Roman, trifft zufällig auf jemanden, der diesen Roman ebenso begeistert gelesen hat und stellt schließlich fest, dass man sich überhaupt nicht darüber unterhalten kann, da beide Leser völlig verschiedene Kategorien an diesem Roman interessant fanden. Ich z.B. neige dazu, sehr auf Stilistisches, auf Intertextualität und auf das Spiel mit Gattungsgrenzen und den Erwartungshaltungen der Leser zu achten (bei Filmen übrigens, hat mein Geschmack ganz stark abgefärbt – vor allem auf meinen Sohn – das ist, zugegebenermaßen nicht allein ein Bildungs- sondern auch ein Generationenproblem). Der Andere hat z.B. auf der rein denotativen Ebene gelesen. Das macht ja nun Kunst häufig aus, dass man sie auf verschiedenen Ebenen und hinsichtlich verschiedenster Kategorien betrachten kann ... Dennoch sind die Gespräche eben oft doch enttäuschend. Letztlich macht es nicht wirklich was, denn der Kunstgenuss an sich sollte genügen. Die Besprechung ist immer nur ein Abklatsch der Kunst.
Hatte ich erwähnt, dass ich an meiner jetzigen Schule – auch in Sachen Bildungsniveau - erstmals das Gefühl habe, am rechten Ort zu arbeiten? An den bisherigen Schulen war es mir so deutlich gar nicht aufgefallen. Ich war unter Menschen, die das Wohl des Kindes im Blick hatten, also in pädagogischen Kategorien dachten, Fleiß und etliche andere Tugenden selbst überzeugend verkörperten und weiter vermittelten, den Eindruck einer reifen abgerundeten Persönlichkeit ohne allzu viele Ecken und Kanten hinterließen und die recht angenehm im Umgang waren. Nun aber – und das führe ich schon darauf zurück, dass ich jetzt an einem Gymnasium bin – empfinde ich erstmals, dass ich unter Meinesgleichen bin hinsichtlich der Art Probleme anzugehen, zu thematisieren, sich Neues anzueignen ... Die Kollegen sind sehr viel analytischer. Von meinem Welt-Wissen, meinen sprachlichen, analytischen und anderen intellektuellen Fähigkeiten her, habe ich das Gefühl, mich dort im Mittelfeld zu bewegen und empfinde zahlreiche Gespräche dort als sehr viel fruchtbarer, als die meisten meiner sonst geführten Gespräche es sind. Dafür bin ich übrigens sehr sehr sehr dankbar. Das Wohlgefühl steigert sich aktuell noch, da ich nun dort auch noch dabei bin, echte Freundschaften zu knüpfen.
Ihr seht: Ich bin ein Bildungs-Junkie. Habe ich erwähnt, dass es totalen Spaß macht, Schülern davon etwas mitzugeben? Meine Mutter sagte letztens, die Tatsache, dass ich so viele Defizite an meinen Schülern wahrnehme, klinge so negativ. Eigentlich ist es das aber nicht. Anfangs, muss ich zugeben, war ich über vieles an der neuen Schule geschockt, vor allem das Sprechen ohne Artikel und Präpositionen („Ich konnte Hausaufgaben nicht machen. Ich war gestern Geburtstag.“, „Gehen wir heute Computerraum?“, ...), die fehlende Deklination („Kann ich mal Herr Müller sprechen?“), das Rotzen auf den Schulhof, die mangelnden Tischsitten und all die vielen Sprachfehler sind nur einige wenige Beispiele, aber eigentlich war mir sehr schnell klar, dass ganz viele dort es eben nie anders vermittelt bekommen haben. Dennoch habe ich von der ersten Minute an sehr deutlich erlebt, dass die Mehrheit der Schüler den Bildungsinhalten gegenüber sehr offen ist und viele Anregungen dankbar annimmt – in dem Wissen, dass sie das so leicht verdaulich sonst nirgends präsentiert bekommen werden. Viele Schüler genießen es, dass sie sehr viel mehr Kenntnisse in bestimmten Bereichen haben, als ihre Eltern.
Schwierig finde ich es allerdings doch auch z.B., wenn ein Schüler auf meinen Hinweis hin, dass „tout à coup“ nicht etwa „sofort“ sondern „plötzlich“ bedeutet und der Schüler dann meint, das sei doch dasselbe. Oder wenn ich in der gleichen zehnten Klasse frage, was denn „une occasion“ heißen könnte, was möglicherweise aus dem Englischen bekannt sei und dann die einzige Schülerin, die das Wort kennt, von zahlreichen Schülern ein Kopfschütteln erntet, da man nicht fassen kann, wie man solche abstrusen Wörter auch noch kennen kann. Nein, also sooooo genau wollen sie die Dinge dann doch nicht wissen ...
Wie gesagt - ich bin wohl ein abartiger Junkie